Pokémon: Let’s Go, Pikachu! und Let’s Go, Evoli! machen das, was sich viele Fans schon lange wünschten: Sie durchbrechen geliebte Serien-Traditionen und führen bahnbrechende Änderungen durch. Das sorgt für die vielleicht größte Kontroverse der Pokéwelt: Denn mit diesen Änderungen unternimmt man den Versuch, die Welt der Hosentaschenmonster auch für Neulinge, abgewanderte Fans und Spieler des Mobile-Phänomens Pokemon Go interessanter zu gestalten. Das ist nicht unbedingt das, was sich die eingeschworene Fanbase wünschte. Unnötige Verdummung des Gameplays nennen das die Einen, während andere aufgeschlossen dem überarbeiteten Konzept entgegenblicken.

151 Pokémon sind alles, was man braucht

“Genwunner” ist in bestimmten Pokémon-Fankreisen fast schon eine Beleidigung. Es bezeichnet Fans, die nostalgisch verklärt an die erste Pokémon-Generation zurückblicken und neue Monster kategorisch ablehnen. Häufig kritisiert man in diesen Kreisen, dass auch heute noch ein zu großer Fokus auf eben jene alten Pokémon gelegt werde. Pokémon: Let’s Go! dürfte für diese Gruppe fast schon ein manifestierter Alptraum sein: Denn hierbei handelt es sich nicht nur um eine weitere Neuauflage der ersten Hosentaschenmonster-Generation, es geht gar einen Schritt weiter als alle bisher dagewesenen Poké-Remakes. Denn: können wir in Titeln wie Omega Rubin und Alpha Saphir noch immer neue Monster fangen, konzentriert sich Let’s Go! kompromisslos auf die ersten 151 Pokémon. Ohne Ausnahmen. Na gut, fast ohne Ausnahmen: Die brandneuen Monster Meltan und Melmetal sind als Bonus mit am Start.

Sind Pokémon: Let’s Go, Pikachu! und Let’s Go, Evoli! also die bisher treuesten Remakes? Mitnichten. Zwar möchte man verloren gegangene Veteranen und Neulinge nicht mit fast 1000 Monstern verschrecken. Um das Konstrukt der ersten Pokémon-Abenteuer herum, bastelte man allerdings die bislang vielleicht radikalste Abkehr von der traditionellen Pokémon-Formel.

Streicheleinheiten statt wilder Jagd

Das zeigt sich wohl nirgends besser – und führte nirgends im Vorfeld zu ähnlich großen Kontroversen – wie im Kampf gegen wilde Pokémon. Denn diese Kämpfe, das kann man so sagen, existieren nicht mehr. Während Duelle gegen Trainer ganz klassisch ablaufen, werden neue Monster nun wie in Pokémon Go gejagt.

Wenn wir im hohen Gras auf ein Monster treffen, schwächen wir es nicht mehr mit Angriffen, um schlussendlich hoffnungsvoll einen Pokéball werfen. Statt uns auf tierschutzrechtlich sicherlich fragwürdige Weise mit den phantastischen Tierwesen zu duellieren, zähmen wir sie stattdessen mit Beeren bis sie den Pokéball geradezu freiwillig als ihre neue Heimat akzeptieren – oder vor uns flüchten.

Die Idee, Trainerkämpfe und das Fangen wilder Pokémon strikt voneinander zu trennen, ist prinzipiell ziemlich interessant. Sorgt dies doch einerseits für mehr Abwechslung im Spielablauf und einer durchaus willkommene Entschlackung: Es erlaubt uns, unsere Monster für die tatsächlich interessanten Trainer-Kämpfe aufzusparen, statt den AP-Pool unserer Teams unnötig zu vergeuden. Auch den ein oder anderen Gang zurück in ein Pokécenter könnt ihr euch so sparen.

Haben wir uns das wirklich verdient?

Die konkrete Umsetzung gerät in Pokémon: Let’s Go! jedoch etwas unbefriedigend. Es mangelt schlichtweg ein Stück weit an dem Gefühl, tatsächlich beeinflussen zu können, ob ein Monster erfolgreich im Ball gefangen wird oder ausbricht. Natürlich, in der Theorie steigern bestimmte Beeren die Erfolgschancen, genauso wie bessere Pokébälle und gut getimte Würfe. In der Praxis wirkt der Effekt oft jedoch eher marginal. Fast schon abstruse Formen nahm dies an, als ich versuchte den legendären Vogel Lavados zu fangen: Ich verwendete ein Sammelsurium an goldenen Früchten, meine Würfe werden mit “großartig” und “einfach fabelhaft” gelobt, doch am Ende gingen doch geschlagene 40 Hyperbälle drauf, bis ich Lavados endlich mein Eigen nennen konnte. Dieses Unterfangen unterstreicht die Probleme, an denen die Fangmechanik kränkelt: Spielerisch stellte der Versuch, das Pokémon zu fangen, keine Herausforderung dar. Stattdessen war es lediglich monoton, langwierig und frustrierend mit anzusehen, wie das Pokémon immer und immer wieder aus dem Ball ausbrach. Das neue System ist kaum skalierbar, ein höherer Schwierigkeitsgrad läuft darauf hinaus, die Ausbruchsrate geradezu ins Unermessliche zu steigern.

Auf der Kehrseite sind viele andere Monster zu einfach zu fangen. Ergibt es Sinn, dass ein Taubsi oder Ratfratz mit wenig Mühe von seinem neuen zu Hause überzeugen ist, wirkt es doch etwas merkwürdig, wenn sich ein anmutiges Wesen wie Arkani ohne größere Probleme fangen lässt. Das wirkt eher antiklimaktisch und passt nicht so recht zur suggerierten Größe des Wesens – so leidet dann auch die emotionale Bindung zu den gefangenen Pokémon etwas. Es mangelt am Gefühl, den Fang verdient zu haben. Dem wird zumindest bei legendären Pokémon wie Mewtu oder dem zuvor erwähnten Lavados etwas entgegengetreten: Bevor wir diese fangen können, müssen wir sie zunächst im Duell besiegen.

Lebendige Pokéwelt

Aber eins bleibt heute wie früher gleich: Wer Pokémon fangen möchte, stapft durchs hohe Gras. Nun, nicht ganz: Denn Zufallskämpfe gehören der Vergangenheit an. Stattdessen können wir fortan jederzeit sehen wie die verschiedenen Pokémon über die Routen wandeln. Das lässt die Welt nicht nur lebhafter wirken, sondern eröffnet auch neue Gameplay-Mechaniken. Fangen wir gezielt mehrere Pokemon derselben Rasse hintereinander, bilden wir eine Fang-Reihe. Je höher diese ist, desto mehr Erfahrungspunkte und Items erhalten wir als Belohnung. Bis zu einem Kombostand von 31 erhöht sich außerdem die Chance, dass Shinys – Pokémon in alternativen Farbkombinationen – in der Welt aufploppen.

Apropos Erfahrungspunkte: EXP werden standardmäßig auf die gesamte Party verteilt. Einen deaktivierbaren Erfahrungsteiler gibt es nicht mehr. Das erleichtert das Aufleveln schwacher Monster, mag manch einem Puristen aber ein Dorn im Auge sein.

Ganz schön knuffig!

Pokémon: Let’s Go! gibt sich als bewusste Reduzierung der Pokémon-Formel. Das zeigt sich nicht nur in der limitierten Monsterauswahl, sondern macht auch vor Gameplay-Elementen nicht Halt: Features wie etwa, Pokémon mit Items ausrüsten zu können, fielen der Schere zum Opfer. Selbst die Online-Modi wurden stark beschränkt: Tauschen und Kämpfen geht online nur mit Freunden. Andere Neuerungen moderner Generationen haben hingegen den Sprung geschafft: So sind TMs unendlich oft anwendbar und VM reine Oberwelt-Skills statt Kampf-Moves – VM-Sklaven mit sich herumzuschleppen somit nicht mehr nötig. Mit dem Richter-Skill können wir zudem die einst unsichtbaren IVs unserer gefangenen Monster betrachten.

Egal, ob Pikachu oder Evoli: Unser Starter-Pokémon – das wir uns erstmals nicht aussuchen können, sondern editionsgebunden ist – sitzt stets auf unserer Schulter. Knuffig! Das ist aber nicht das einzige Pokémon, das uns Schritt für Tritt verfolgen kann. Wir können zusätzlich ein beliebiges Pokémon aus seinem Ball entlassen und hinter uns her traben lassen. Auf größeren Vertretern können wir gar reiten – oder fliegen.

Optisch präsentiert sich Let’s Go als zweischneidiges Schwert. Einerseits überzeugt es visuell mit liebevoll animierten Pokémon und einer angenehm klaren Grafik. Andererseits kann man Let’s Go einen gewissen 3DS-Ursprung nicht aberkennen: Die pure Grafikqualität wird der Switch kaum gerecht, vielmehr wirkt es so als hätte an die vorhandene 3DS-Technik auf die Switch übertragen und etwas aufpoliert.

Von Go zu Let's Go

Die Safari-Zone in Fuchsania City musste in den vergangenen 20 Jahren dem neuen Go Park weichen. Hier können Monster aus Pokémon Go übertragen und danach in Let’s Go! gefangen werden. Hardcore-Trainer aufgepasst: Die IVs der Monster werden hierbei neu ausgewürfelt. Besitzer des Pokéball Plus können außerdem ein Wunschmonster im Mini-Controller ablegen und so unterwegs aufleveln. Gleichzeitig erfüllt der putzige Ball in Pokémon Go die Funktionen eines Go Plus-Armbands, mit dem zusätzlichen Bonus, dass nicht nur Pokémon automatisch gefangen, sondern auch Pokéstops aktiviert werden können.

Fazit - Pokémon: Let's Go, Pikachu! / Let's Go, Evoli!

Es wäre zu einfach, Pokemon: Let's Go, Pikachu! und Let's Go, Evoli! als Einsteiger-Spiel für Neulinge und Go-Spieler abzutun. Tatsächlich zeugt das Duo von dem Mut, den viele Fans seit Jahren in der Pokémon-Reihe schmerzlich vermissen. Doch wie es so oft mit Mut zur Innovation ist, ist sie insbesondere für eingesessene Fans manchmal besonders schmerzhaft. Der Staub, der sich über die Jahre ansammelte, wurde schließlich allzu oft irgendwie lieb gewonnen. Lasst euch jedoch nicht davon täuschen, dass Let's Go! als eine Art Experiment vermarktet wird: Es handelt sich hierbei um nicht weniger als den vielleicht wichtigsten Pokémon-Release seit vielen Jahren. Es dient als Testballon, um allerhand Neuerungen auszuprobieren, die die Reihe auch in Zukunft definieren werden oder könnten. Die an Go angelehnte Fangmechanik wird im nächsten Mainline-Pokemon vermutlich nicht vorkommen. Der hier angeschlagene Gedanke, zwischen Trainer-Duellen und dem Fangen wilder Pokémon stärker zu differenzieren, könnte aber durchaus in Zukunft fortgeführt werden. Auch Elemente wie die Abkehr von Zufallskämpfen oder der verstärkte Fokus auf Pokémon, die man auch außerhalb des Pokéballs nutzen kann, werden wir hier definitiv nicht zum letzten Mal gesehen haben.

Was lässt sich unter diesen Gesichtspunkten also abschließend über Pokémon: Let's Go, Pikachu! / Let's Go, Evoli! sagen? Eines ist sicher: Die Poké-Apokalypse, die sich einige Fans ausmalten, blieb aus. Viele der vorverurteilten Features stellen sich gar als gelungene Neuerungen heraus. Auch die kontroverseste Komponente – die fehlenden Kämpfe gegen wilde Pokémon – entpuppt sich bei näherer Betrachtung als interessanter Schachzug mit viel Potential. Potential, welches man noch nicht vollständig auszuschöpfen wusste. Dafür fühlt sich die an Pokémon Go angelehnte Fangmechanik letztlich zu passiv und zu wenig beeinflussbar an. Eines ist dennoch sicher: Pokémon: Let's Go, Evoli! und Let's Go,Pikachu! sind weit mehr als nur bloßes Aufkochen von Nostalgie – und haben ihren Platz in der Pokémon-Chronologie mehr als verdient.

Bildquelle(n): Nintendo, Game Freak, Creatures