Dragon Quest ist sich seit jeher seiner Tradition bewusst. Versucht sich "Final Fantasy" mit jeder neuen Episode neu zu erfinden – ein neues Kampfsystem hier, ein gänzlich neues Setting dort –, sieht sich jedes Dragon Quest auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Die Charaktere versprühen immer den unverkennlichen Akira-Toriyama-Charme, auch beim Setting bleibt man der mittelalterliche Fantasy treu und macht keine Experimente. Das Kampfsystem ist streng rundenbasiert wie eh und je, sogar die Menüführung orientiert sich an seeligen NES-Zeiten – und selbst der Soundtrack hört sich irgendwie immer gleich an. Dragon Quest XI bildet hier keine Ausnahme.
Das ist vermutlich einer der größten Gründe, weshalb Dragon Quest in unseren Breitengraden einfach nicht so recht ziehen mag: Trotz hübscher Optik appelliert die Reihe immer auch an die Nostalgie ihrer Spieler. Nostalgie, die bei uns kaum einer pflegt. Schließlich erschien der erste nummerierte Serienableger bei uns erst im Jahre 2004 – fast 20 Jahre, nachdem die Reihe in Japan startete und zum Phänomen avancierte. Hält sich in der Heimat hartnäckig die urbane Legende, dass Square Enix an Schultagen keine neuen "Dragon Quest"-Spiele veröffentlichen dürfe, weil das Schüler zum Schwänzen anstifte, kann von solchen Mythen bei uns keine Rede sein. Dragon Quest mag etwas altmodisch sein, doch deswegen ist es noch lange nicht altbacken: Denn wer genau hinsieht, erkennt, wie sich die Reihe über die Jahre stets weiterentwickelt hat. Das Rad wird nicht neu erfunden, sondern mit feinen Verbesserungen runder geschliffen.
Was heißt das für Dragon Quest XI? Vielleicht lässt es sich am besten so ausdrücken: Der Titel fühlt sich an wie ein Rollenspiel aus der glorreichen SNES-Ära, das fast schon unabsichtlich im wunderschönen HD-Gewand geboren wurde. Im Umkehrschluss heißt das: Wer diese goldene Ära des Genres vermisst, findet in Dragon Quest XI vielleicht das Spiel seiner Träume.
Eine Welt, in der es sich zu leben lohnt
Schon in den ersten Spielminuten verzaubert Dragon Quest XI mit einer unheimlichen Liebe zum Detail. Wenn wir mit dem namenlosen Protagonisten das Dörfchen Kieslingen erkunden, bestaunen wir die vielen kleinen Aufmerksamkeiten: Wir sehen etwa, wie ein Kind seine Füße im Bach taumeln lässt oder eine Mutter ihr Neugeborenes im Schatten eines Baumes in den Schlaf schaukelt. Liebevolle Animationen lassen die markanten Designs von "Dragon Ball"-Schöpfer Akira Toriyama zum Leben erwecken – und helfen dabei, eine Welt zu erschaffen, in der wir uns gleich heimisch fühlen. Diese Liebe zum Detail zieht sich durch das gesamte Spiel hindurch: Jede der unzähligen Städte ist mit vielen liebevollen Details gespickt und kein Ort wirkt wie der andere. Ob eine imposante Metropole eines mächtigen Königreichs, eine an Venedig angelehnte Hafenstadt oder ein japanisch anmutendes Dorf, in dem alle Menschen in Haikus sprechen: Jeder Fleck der Welt hat seinen unverkennbaren Charme. Beim Weltendesign verzichtete man auf eine grenzenlose Open-World und setzt stattdessen auf Gebiete, in denen jeder Grashalm mit Sorgfalt gepflanzt wurde. Natürlich ist es dabei alles andere als abkömmlich, dass auch die Grafik mit kaum einem anderen Wort als "wunderschön" beschrieben werden kann.
Helden dringend nicht gesucht
Eine ähnlich gemütliche Atmosphäre versprüht auch die Story. "Dragon Quest"-typisch hält sich die anfangs vornehmend zurück, stattdessen rücken auf unserer Heldenreise die Probleme der Menschen, die wir auf unserem Weg treffen, in den Mittelpunkt.
Im Dörfchen Kieslingen ist es Ritual, dass Jugendliche, sobald sie die Schwelle des Erwachsenwerdens erreicht haben, die Spitze des heimischen Bergs erklimmen. Wer den Ausblick auf das weite Meer genossen hat, sei sich seiner Verantwortung im Leben bewusst und hat somit Reife erlangt. Für unseren namenlosen Protagonisten entpuppt sich dies jedoch als mehr als nur ein bedeutungsschwangerer Brauch: Seine Ziehmutter erklärt ihm, dass er einst als Windelkind gefunden wurde. Einzig ein Brief habe er bei sich getragen - mit der Botschaft, dass es sich bei diesem Jungen um die Reinkarnation des legendären Helden Erdrick handle.
Unser Lichtbringer soll sich nun aufmachen, um sich dem König vorzustellen und so der Welt Hoffnung zu stiften. Dummerweise braucht diese Welt keine Hoffnung: Wenn es nach dem Herrscher geht, geht es den Menschen nämlich ziemlich gut. Der legendäre Held sei keine Offenbarung, die es zu feiern gilt. Vielmehr gehöre er in den Kerker verbannt. Schließlich erwache immer dann, wenn der Held auftaucht, auch das Böse. Wo kein Held ist, so die Logik des Königs, ist auch nicht das Böse.
Klassisch kämpft es sich doch am besten
Wenn wir die Oberwelt und Dungeons bereisen, werden wir nicht länger von zufällig aufploppenden Monstern überrascht. Wie in den 3DS-Remakes von Dragon Quest VII und VIII wird die Welt nun von sichtbaren Monstern bewuselt – Zufallsbegegnungen sind somit (fast) endgültig passé. Verfolgten die Monster in Dragon Quest VII auf dem 3DS die Heldenparty noch aggressiv und ohne Unterlass, ist die Umwelt in Dragon Quest XI deutlich angenehmer drauf. Fast immer ist es leicht möglich, den Widersachern aus dem Weg zu gehen. Aber Achtung: Unterlevelt kämpft es sich natürlich schlecht.
Sollte es zu einem Schlagabtausch mit den quirligen Monstern kommen, fällt gleich auf, dass das Kampfsystem einer kleinen Modernisierungskur unterzogen wurde – mit einem etwas merkwürdigen Effekt: Waren "Dragon Quest"-Spiele bislang streng rundenbasiert, ist es nun jederzeit möglich, sich frei in der Kampfarena zu bewegen. Das klingt erst einmal interessant, könnte dies doch neue taktische Möglichkeiten eröffnen. Die Wahrheit ist jedoch: Es handelt sich hierbei ausschließlich um eine optische Änderung. Einen Nutzen bringt die neue Bewegungsfreiheit nicht mit sich. Vielmehr ist sie verwirrend, da sie uns vorgaukelt, dass unsere Position zum Gegner eine Rolle spielt. Die starren Kameraperspektiven lassen die Rundenkämpfe zudem undynamisch wirken.
Deswegen ist ein Sprung in das Menü angebracht: Mit einem Wechsel auf die klassische Kampfkamera steht die Party wieder starr auf dem Feld und jede Aktion wird von einem netten Kameraschwenk begleitet. Damit fühlt sich das Geschehen gleich viel geschmeidiger an.
Super Saiyajin Quest
Das Kampfsystem mag auf den ersten – und auch zweiten – Blick etwas altertümlich wirken, doch beweist es schnell gewisse Tiefe. Ist der Anfang des Spiels stupide einfach, sehen sich Kämpfernaturen schnell größeren Herausforderungen entgegen. "Dragon Quest"-typisch beißen diejenigen, die nur auf Angriff drücken, schnell ins Gras. Mag ein Monster noch so imposant und undurchdringbar erscheinen, mit den passenden Buffs und Debuffs wirkt es schnell wie ein handzahmer Tiger. Das heißt: immer noch bedrohlich, aber bezwingbar. Wer eine große Herausforderung sucht, kann zum Spielstart "drakonische" Einstellungen vornehmen und so etwa gegen stärkere Monster antreten, weniger Erfahrung und Gold erhalten oder auch einfach zu schüchtern sein, um mit NPCs zu sprechen.
Mit den "Prep Moves" stehen dem Spieler neue Spezialangriffe zur Verfügung. Kassieren die Helden zu viel Haue, werden sie von einer Aura umgeben und erhalten gewisse Statussteigerungen. Wenn verschiedene Charaktere gleichzeitig in diesen Zustand gelangen, ist es möglich, jene mächtigen "Prep Moves" aus dem Ärmel zu schütteln: starke Attacken, bei denen Party-Mitglieder gemeinsam die Monster angreifen oder ihre Macht bündeln, um die Gruppe mit einem kräftigen Buff auszustatten. Wenn man sich gerade nicht im Prep-Zustand befindet, kann man sich natürlich trotzdem mit allerhand Skills und Magie zu Wehr setzen. Diese werden entweder ganz klassisch bei Levelaufstieg gelernt oder indem Talentpunkte auf einem neuen Skill-Brett verteilt werden, das dem Sphärobrett aus "Final Fantasy X" ähnelt. Dragon Quest XI geht mit Talentpunkten äußerst sparsam um, daher ist es ratsam, sich schon im Vorfeld einen Plan zu machen, welche Skills erlernt werden sollen. Entsprechen die Skills doch nicht den Wünschen, können diese bei der örtlichen Kirche gegen einen Obolus neu verteilt werden.
Dudelnde Enttäuschung
Ein Wermutstropfen ist der Soundtrack: Begeisterte Dragon Quest VIII anno dazumal mit wundervollen Orchesterklängen, erklingen die Kompositionen in Dragon Quest XI in lediglich schwacher MIDI-Qualität aus dem Lautsprecher. Zudem mangelt es dem neuen Drachenabenteuer an einer eigenen klanglichen Identität: Die Hälfte aller Musikstücke wurden kurzerhand aus den Vorgängern übernommen und die neuen Tracks sind oftmals nur leidlich gut.
Für westliche "Dragon Quest"-Fans gibt es ein kleines Schmankerl, das Japanern vorenthalten blieb: Verständigte man sich im Original nur über unvertonte Textboxen, bekam die internationale Version von Dragon Quest XI englische Sprachausgabe spendiert. Wie es mittlerweile Tradition ist, wurde die natürlich von britischen Sprechern eingesprochen – schließlich möchte man den mittelalterlichen Charme der Reihe einfangen. Das klappt wunderbar.
Fazit – Dragon Quest XI
Was macht Dragon Quest XI neu? Nicht viel und genau das ist seine Stärke. Statt modernen Trends hinterherzulaufen und eine karge Open-World mit einer Millionen Fetch-Quests zu präsentieren oder sein traditionelles Kampfsystem gegen Action-Geschwurbel einzutauschen, bleibt Dragon Quest XI sich selbst treu. Was 30 Jahre lang gut gehalten hat, kann heute schließlich auch nicht schlecht sein.
Ist das altertümlich? Nein, es ist lediglich ein Zeichen von Selbstbewusstsein. Selbstbewusstein darüber, dass ein wundervoll präsentiertes, mit Liebe zum Detail kreiertes Rollenspiel der alten Schule auch heute noch punkten kann. Darüber, dass schick präsentierte Menüs mit Tiefgang genauso viel Spaß machen können wie flotte Action. Darüber, dass Qualität auch im Jahre 2018 noch Trumpf ist. So bleibt nur zu hoffen, dass dieses Selbstbewusstsein auch honoriert wird – zu wünschen wäre es.