428: Shibuya Scramble wäre ein heißer Kandidat für das Spiel des Jahres – wenn es denn irgendjemand spielen würde. Erschien es bereits vor 10 Jahren in Japan und heimste dort eine der raren 40/40-Traumwertungen des Famitsu-Magazins ein, schien eine Veröffentlichung in unseren Breitengraden lange Zeit unmöglich. 428 ist einfach zu japanisch, zu schwer zu übersetzen und überhaupt: Visual Novels im Westen lassen sich nur schwer verkaufen. Zu stark das Vorurteil, dass ein Spiel, in dem man nur liest, doch gar kein Spiel und somit schlecht sei. Wunder geschehen aber immer wieder: Zum 10-jährigen Jubiläum veröffentlicht Spike Chunsoft seinen Thriller für PS4 sowie PC und bringt es in Kooperation mit Koch Media erstmals auch zu uns.

Willkommen in Shibuya

428 klingt wie ein merkwürdiger Name, doch diese unscheinbare Zahl erklärt Shibuya Scramble fast perfekt. Denn im Japanischen kann 428 auch als “Shibuya” gelesen werden - wie das bekannte Trendviertel Tokios. 428 steht aber auch für 4/28, den 28. April. Die Bedeutung ist klar: 428: Shibuya Scramble lässt uns den 28. April eines unbestimmten Jahres in Shibuya erleben.

Hierbei treffen wir auf ein wildes Sammelsurium an Charakteren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Kano, der naive Nachwuchspolizist, der einer Entführung auf die Spur geht. Achi, der 19-jährige Rebel, der Shibuya aufräumt und wortwörtlich den Dreck von der Straße aufsammelt. Osawa, ein erfolgreicher Wissenschaftler, der mit Problemen zwischen Arbeit und Familie zu kämpfen hat. Minorikawa, ein Journalist, der nur wenige Stunden Zeit hat, um ein angezähltes Klatsch-Blatt zu retten. Und nicht zu vergessen Tama, eine Katze (?!), die auf den Straßen Shibuyas erfolglos Diätdrinks verkauft. Zunächst scheint die Protagonisten kaum etwas zu verbinden, doch schon bald finden sie sich in einem Spinnennetz von tödlichen Killerviren, Entführungen, Terroristen und abstrusen Reichtums-Fantasien.

428: Shibuya Scramble präsentiert sich als klassische Visual Novel. Das heißt: Die Spielzeit wird damit verbracht, Text auf Standbildern zu lesen und ab und zu eine Entscheidung zu treffen, die die Geschichte in unterschiedliche Richtungen vorantreibt. Wir können dabei jederzeit zwischen den verschiedenen, zeitgleich verlaufenden Geschichtssträngen wechseln. Denn ganz nach der Chaos-Theorie, die beschreibt wie ein Schmetterling auf der anderen Seite der Welt einen Wirbelsturm auslösen kann, können selbst trivial-wirkende Entscheidungen katastrophale Auswirkungen auf den den Verlauf der Geschichte eines anderen Charakters haben. Beispiel gefällig? Als wir mit Tama in einem dreckigen Lager nach billigem Ramsch suchen, sehen wir eine eklige Kakerlake vor uns. Die Entscheidung Flucht oder Kampf wirkt zunächst wie eine der witzigen Szenen, die in 428 so typisch sind: Doch nehmen wir den Kampf gegen das Ungeziefer auf, verschwindet es durch ein offenes Fenster und fällt in einer stillen Seitengasse einem der anderen Protagonisten zu einem ganz und gar unpassenden Zeitpunkt auf den Kopf.

Nur ein Bad End ist ein Happy End

Sollte dies passieren, bekommen wir ein Bad End serviert. Das heißt, wir müssen im Zeitstrahl zurückgehen und unsere Entscheidung so anpassen, dass der negative Einfluss ausbleibt. Die Kettenreaktionen, die unsere Entscheidungen auslösen, sind manchmal auf den ersten Blick nicht klar zu erkennen: Daher bietet das Spiel ein hilfreiches Hint-System, welches uns mal mehr, mal weniger konkret darauf hinweist, wer und zu welcher Zeit eine ungünstige Entscheidung getroffen hat. Manchmal bedeutet das auch, dass wir zum Wohl des großen Ganzen eine Entscheidung treffen müssen, die uns kurzfristig vom gewünschten Ziel abbringt.

Bad Ends verraten manchmal neue Details über Charaktere und ihre Motivationen, manchmal führen sie in den bitteren Tod, manchmal sind sie auch einfach nur schreiend komisch. Oft entfloh mir ein überraschtes “Oh shit!”, wenn sich anbahnte, dass eine Entscheidung, die vor wenigen Minuten noch sinnvoll erschien, auf den nächsten Story-Strang ganz und gar ungewollte, katastrophale und urkomische Folgen hatte. Zeitverschwendung oder frustrierend sind die Bad Ends selten, vielmehr wecken sie den Detektivgeist herausfinden zu wollen, was schief lief.

Die Geschichte ist hierbei in Stunden aufgeteilt, die wie Kapitel fungieren. Erst, wenn alle Charaktere erfolgreich das Ende einer Stunde erreicht haben, können wir die nächste Stunde starten. Zudem gibt es innerhalb einer Stunde verschiedene "Keep Out"-Momente, die die Geschichten einer Person unterbrechen bis ein anderer Protagonist aufgeholt hat. So wird verhindert, dass wichtige Story-Ereignisse vorweggenommen werden.

Perfekter Spagat zwischen Humor und Spannung

428 schafft im Verlauf seiner Geschichte das Kunststück mit spielerischer Leichtigkeit zwischen absurd-surrealem Humor und fast schon unerträglicher Spannung zu wechseln, nur um im nächsten Moment mit herzzerreißender Dramatik aufzuwarten. Die Atmosphäre ist wundervoll bizarr, das Spiel nimmt sich nie zu Ernst, weiß aber stets ganz genau, wann es an der Zeit ist, einen Gang runterzuschalten, damit sich die mit höchster Vorsicht und Liebe zum Detail gestrickte Geschichte entfalten kann. Dabei hilft auch die optische Präsentation: Shibuya Scramble zeigt nicht etwa gezeichnete Anime-Figuren, sondern Schauspieler, die in Locations in Shibuya aufgenommen wurden. Obwohl die Geschichte hauptsächlich in Standbildern erzählt wird, beweisen die Schauspieler dabei ein ausgesprochenes Talent, Action und Emotionen zu übertragen.

Diese Detail-Versessenheit zeigt sich zum Beispiel in der Darstellung Shibuyas und seiner Bewohner. Selbst zunächst unscheinbare Nebencharaktere wachsen schnell ans Herz. Viele arme Gestalten in Shibuya haben das zweifelhafte Glück, sich im Verlauf des Tages gleich mit mehreren Figuren aus unserem Cast der Kuriositäten herumärgern zu müssen – und können dafür nur bemitleidet werden. In ausschmückenden und optionalen Tip-Texten werden dabei gerne einmal auf lockere Art die Hintergrundgeschichten der Nebencharaktere dargestellt, inklusive manch einer Überraschung. Die Autoren haben es geschafft, ihr fiktionales Shibuya wie einen atmenden, lebendigen Organismus erscheinen zu lassen. Wenn schlussendlich die Credits über den Bildschirm rollen, liebt man diese Stadt in der Stadt, die die Heimat von 200.000 Menschen ist, fast genauso sehr wie Achi es tut.

Mit Liebe zum Detail

Manchmal, wenn mir ein Spiel besonders ans Herz wächst, fühle ich nach dem Durchspielen ein kleines Gefühl der Leere. Das Wissen, dass ich die Charaktere mit denen ich die letzten Stunden verbracht habe, nicht wiedersehen werde, macht mich traurig. In 428 trauerte ich bereits während des Spieldurchgangs: Nicht etwa wegen der Protagonisten, sondern immer dann, wenn es sich abzeichnete, dass gewisse Nebencharaktere für den Rest der Story nicht mehr auftauchen werden. Ein Zeichen dafür wie gelungen die Porträtierung selbst vermeintlich unwichtiger Charaktere ist. Umso mehr freute ich mich, als mir 428 nach dem Durchspielen geradezu endlos viel Bonus-Content offenbarte, der auch eben jene Charaktere in den Vordergrund stellt.

428 ist bodenständiger als die meisten anderen Visual Novels. Gibt es kaum ein anderes Genre, das traditionell so sehr mit dem Eroge- oder Hentai-Bereich verwandt ist und dementsprechend nicht mit nackter Haut und Fanservice geizt, verzichtet 428 Shibuya Scramble auf derlei Schmutzigkeiten vollständig. Ein Tip am Anfang des Spiels zum Thema Bondage fasst dies augenzwinkernd zusammen: “Bondage ist hier nur im Sinne von Festnahmen durch die Polizei zu verstehen. Wer etwas anderes erwartet, ist hier beim falschen Spiel.”

Gewiefte Texte und fehlender Komfort

Wo es viel Licht gibt, fällt naturgemäß auch etwas Schatten. Während 428 inhaltlich fast alles richtig macht, lässt der spielerische Komfort stellenweise etwas zu Wünschen übrig. So mangelt es dem Titel an Text-Speed-Optionen – im Genre eigentlich Standard. Text erscheint stattdessen stets abgestimmt auf Musik und Dramatik der Situation. Aber wie bei einem guten Buch, sitzt man manchmal so gebannt vor dem Bildschirm, dass man die nächsten Zeilen einfach nur ganz, ganz schnell lesen möchte… Auch das Text-Skip-Feature ist in 428 weniger komfortabel als bei den meisten anderen Genre-Vertretern. Ein automatisches Überspringen bereits gelesener Texte ist nicht möglich und der Backlog lässt einen nicht an jeder Stelle zurück in die Zeilen springen.

Bei der Lokalisierung ließ sich Spike Chunsoft hingegen nicht lumpen. Für die Übersetzung engagierte man Kajiya Productions, das Studio von Branchen-Legende Alexander O. Smith. Mit seinen Übersetzungen zu Spielen und Romanen wie "Final Fantasy Tactics", "Vagrant Story" oder "Brave Story" hat er sich als Wortakrobat bewiesen, der auch schwer zu übersetzenden Stoff künstlerisch in der englischen Sprache einfängt. Und das ist gut so: die gute Schreibe, der knackige Humor, der Sinn für Spannung machen 428 erst zu dem, was es ist. Der ein oder andere Formatierungsfehler sei verziehen.

Fazit – 428: Shibuya Scramble

Unheimlich spannend, unheimlich witzig, unheimlich berührend: 428 besticht mit einer Story, die spielend leicht das gesamte Emotionsspektrum bedient und euch ein herzhaftes Lachen entlockt, nur um euch wenige Sekunden später einen emotionalen Schlag in die Magengrube zu verpassen. Ermöglicht wird dies vor allem von einem hervorragenden Cast grundverschiedenster Protagonisten, der stets souverän den Spagat zwischen Parodie bekannter Stereotypen und menschlich wirkender Charaktere schafft. Egal, ob Kano, Achi oder Tama: Jeder von ihnen wächst mit rasanter Geschwindigkeit ans Herz. Wer abseits des Mainstreams nach Perlen sucht, findet in 428: Shibuya Scramble einen der größten Geheimtipps des Jahres. Ein Platz weit oben auf meiner persönlichen Liste der besten Spiele des Jahres ist dem Trip nach Shibuya jedenfalls sicher.

Bildquelle: Spike Chunsoft